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Die Barbarakapelle des Schlosses Grafenstein/Grabštejn
Marius Winzeler
Die im Nordflügel des Hochschlosses direkt am Bergfried gelegene Kapelle ist unzweifelhaft der bedeutendste Raum und der kostbarste Schatz Grafensteins. Sie ist mit ihrer Ausmalung und Teilen der Ausstattung erstaunlich wohlbehalten über die Zeit gekommen. Trotzdem blieb sie von der kunstgeschichtlichen Forschung bisher weitgehend unbeachtet. Gründe dafür waren die Jahrzehnte währende Unzugänglichkeit der Kapelle und die scheinbar abgelegene Grenzlage der Burg Grafenstein. Im vorliegenden Beitrag sollen das bisherige Wissen zusammengefasst sowie Fragen für eine umfassendere Betrachtung gestellt werden.
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Architektur
In den bestehenden Bautrakt des Nordflügels wurde ab 1564 ein Gewölberaum in Renaissanceformen eingebaut, der aus einem Guss scheint, jedoch die vorhandenen Bauteile einbezieht. So beließ man die offenbar älteren Fenster zum oberen Hof sowie zur nördlichen Außenseite, weshalb sie der neuen Gliederung nicht entsprechen. An der Hoffassade erhielten sie aber eine moderne Rahmung mit Dreiecksgiebeln, dazu kamen zwei runde Okuli als wirkungsvolle Ergänzung. Der neue Kapellenraum wurde als regelmäßiger dreijochiger Saal mit dreiseitigem Polygon in die rechteckige Kubatur eingefügt. An der West-, Nord- und Ostseite ist der Aufriss zweigeschossig ausgeführt und mit Emporen versehen, wobei die Westempore auf zwei dorischen Säulen und einem dreijochigen Gewölbe in den Raum eingestellt ist, die nördliche Seitenempore jedoch über den im unteren Teil an den Kapellenraum angrenzenden Gang ausgreift und so den Kapellenraum im Obergeschoss erweitert. Im Osten führen im Erdgeschoss rechteckige Türen in kleine Eckräume (Sakristeien). Darüber öffnen sich die abgeschrägten Seiten des Polygons durch Bögen, wodurch in den Zwickeln kleine Emporenbereiche entstanden, wovon der südliche nur vom Wendelstein des Bergfrieds zugänglich ist.
Das Hauptgewölbe ruht auf eingestellten Wandpfeilern und ist als gleichmäßiges Kreuzgratgewölbe ausgeführt, dessen Kappen glatt stuckiert sind, um für die reiche Ausmalung optimale Flächen zu bilden. Dabei wurde auf den Gurtgrat zwischen dem von Osten ersten und zweiten Joch bewusst verzichtet, da dort das Hauptbild der Ausmalung jochübergreifend eingefügt wurde. Wichtiges architektonisches Gestaltungselement sind steinerne Balustraden mit bauchigen, mittig mit einem schmalen Ring geschnürten Balustern – als Emporenbrüstungen gliedern sie den Raum ebenso wie als Abschrankung des Altarplatzes. Ihre ungewöhnliche Dominanz ist eine Folge der geringen Raumhöhe: Die Emporenbalustraden nehmen die halbe Höhe der Arkaden ein und wirken entsprechend mächtig.
In der Zweigeschossigkeit folgt die Grafensteiner Schlosskapelle einem weit verbreiteten Typus mittelalterlicher Burgkapellen: Während der untere Raum die ganze Burgbesatzung aufzunehmen hatte, wohnte die Herrschaftsfamilie mit ihren Gästen im Obergeschoss den Gottesdiensten bei – die Emporen dienten als Herrschaftssitz und Privatoratorium. Traditionell ist auch der polygonale Abschluss der Altarwand. In der formalen Ausführung der Baugestalt, in der auf eine räumliche Abgrenzung des Altarbereichs verzichtet und ein Einheitsraum mit Wandpfeilern und markanter Hervorhebung der Zweigeschossigkeit durch Balustraden geschaffen wurde, sind aber gleichzeitig die modernsten Lösungen des frühen evangelischen Kirchenbaus berücksichtigt.
Bemerkenswert ist zudem die Erschließung der Kapelle und ihre räumliche Verbindung mit den angrenzenden Funktionsbereichen der Burg. Neben dem untergeordneten direkten Zugang vom oberen Hof befinden sich die Eingänge in die Kapelle an der Westseite. Dort schließt die mit einem prächtigen Lünettengewölbe mit zentraler Rosette versehene Haupthalle des Schlosses an – ein Vorraum, der gleichzeitig als Empfangs- und Festsaal diente. Ein repräsentativer Treppenaufgang mit Balusterbrüstung führt auf die Empore der Kapelle und weiter in die darüber liegenden Wohnräume. Von dorischen Säulen gestützt, überwölbt dieser Aufgang auch den unteren Haupteingang. Die enge Verzahnung von Saal, Haupttreppe und Schlosskapelle erinnert an ein in den königlich-böhmischen Residenzen des Mittelalters bevorzugtes Raumschema und verdeutlicht die Bedeutung der Kapelle für Zeremoniell und Repräsentation im Raumkonzept der Gesamtanlage. Zum Vergleich sei nur auf die Situation der Allerheiligenkapelle der Prager Burg mit ihrer direkten Anbindung an den Wladislawsaal verwiesen.
Die Grafensteiner Schlosskapelle gehört zu den ersten Beispielen neu errichteter herrschaftlicher Sakralbauten evangelischer Konfession in Böhmen und Mähren. Im Unterschied zu den süd- und mitteldeutschen Beispielen handelt es sich bei ihnen um traditionelle, dem mittelalterlichen Typus folgende Gewölberäume mit eingezogenen polygonalen Altarräumen – etwa in Leitomischl/Litomyšl (1568–1581) –, die sich von der gleichzeitigen katholischen Architektur nicht unterscheidet, wie die Schlosskapellen in Teltsch/Telč (1580–1589) und Kurzweil/Kratochvíle (1585–1589) zeigen. Demgegenüber erscheint der einheitlich konzipierte Emporenraum in Grafenstein, der ohne ausgeschiedenes Polygon ausgeführt ist und ohne gotische Reminiszenzen (z. B. in den Fensterformen) auskommt, ausgesprochen innovativ. Im böhmischen Umfeld diesbezüglich vergleichbar ist allenfalls die in königlichem Auftrag ausgebaute Kapelle in Schloss Brandeis an der Elbe/Brandýs nad Labem (1563–1565 und später), an deren gewölbten Saal ein eingezogener quadratischer Altarraum mit Kuppelgewölbe, flankiert von zwei kleinen Sakristeiräumen anschließt, wo auf Emporen allerdings verzichtet wurde. Dass der Kapellenbau in Grafenstein nicht ohne Wirkung blieb, zeigt die nahe, als gewölbter Emporenraum ebenfalls reich ausgemalte und ausgestattete evangelische Schlosskapellen der Familie von Redern in Friedland/Frýdlant (1598–1602), der wiederum diejenige in Reichenberg/Liberec (Weihe 1604) nachfolgte.
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Ausmalung
Der bereits in der klaren und kompakten Raumlösung vorgezeichnete Anspruch der Grafensteiner Schlosskapelle wird durch die reiche, in fresco al secco-Technik – also in den frischen Putz grundierte und dann über den getrockneten Grund mit Kalkfarbe – ausgeführte Ausmalung aus der Bauzeit unterstrichen; die Datierung ist durch das vierfach auf illusionistisch gemalten Täfelchen angebrachte Datum 1569 gesichert. Architektur und Dekor sind als Einheit aufgefasst und in ein inhaltliches Gesamtkonzept einbezogen. Geschickt akzentuiert die Malerei die Bauglieder: Im unteren Bereich sind die Wandpfeiler mit nahezu lebensgroßen Darstellungen der zwölf Apostel geschmückt – sie symbolisieren Als Vermittler der christlichen Botschaft das Fundament der Kirche. Kapitelgesimse und Wandfelder sind den biblischen Gestalten ungeordnet und nur ornamental mit Friesen und Grotesken bemalt. Am Gewölbe wurden die Grate malerisch hervorgehoben und die Kappen mit einem überaus kostbar wirkenden, feinteilig-filigran gehaltenen Groteskenwerk überzogen. Farblich setzt sich der helle Sandstein der Balustraden und Gewände als Grundton fort, während die Grotesken selbst als Grisaille (Graumalerei) gehalten sind und damit der Wirkung von Stuck nahe kommen. Darin erscheinen in feinen Ranken und stilisierten Pflanzenornamenten antikisierende Mischwesen, Tiere, ein Triumphwagen, Amoretten, aber auch Engel mit Posaunen, die rund um das Hauptbild zum Jüngsten Gericht blasen. Dazwischen erscheinen in der Art von antiken geschnittenen Steinen (Gemmen), also wie Preziosen im Ornamentschmuck, kleine figürliche Darstellungen von Tugend und Heiligen, die gewissermaßen als kostbare christliche Altertümer gedeutet werden können, weshalb auch eindeutig katholische Motive wie dasjenige einer Schmerzensmutter ausgewählt wurden. Als Rahmen umgeben die in jedem Gewölbezwickel variierten Grotesken runde szenische Darstellungen, die mit ihren dunklen und kräftigen Farben das Dekorationssystem dominieren.
Das Bildprogramm setzt in den seitlichen Zwickeln an der Westseite mit kleinen Medaillons ein, welche die Darstellungen der Verkündigung (südlich) und der Geburt Christi (nördlich) zeigen. Sie sind nur von der Empore aus erkennbar und beziehen sich auf das Weihnachtsgeschehen als Beginn der christlichen Heilsgeschichte. Inhaltliches Hauptthema der Ausmalung ist sodann die Passion bzw. der Triumph Christi über Tod und Teufel. Die Reihenfolge der Szenen beginnt unmittelbar vor dem Altarraum auf der Nordseite, der Evangelienseite, von wo aus im Gottesdienst auch die entsprechende Lesung gehalten wurde. Erstes Bild ist der Einzug Jesu in Jerusalem (Palmsonntag). Das westlich folgende Bild zeigt das Letzte Abendmahl, danach ist im Westjoch die Gethsemane-Szene – Jesus am Ölberg – dargestellt. Die nächsten drei Szenen besetzen die Mitte des Gewölbes in den beiden westlichen Jochen und werden von Ost nach West gelesen: Verrat und Gefangennahme Jesu, Jesus vor Hannas, Verspottung und Dornenkrönung Jesu. Danach setzt sich der Zyklus auf der westlichen Südseite im Gewölbe fort mit den Darstellungen der Geißelung Jesu und der Kreuztragung. Im Wandfeld darunter folgt die Kreuzabnahme, danach im östlich anschließenden Gewölbejoch die Grablegung Jesu und an der Wand darunter die Höllenfahrt Christi. In den Gewölbekappen über dem Altar kulminiert der Zyklus mittig in der Szene der Auferstehung Christi, während nördlich die Himmelfahrt und südlich die Ausgießung des Heiligen Geistes dargestellt sind. Westwärts folgt mittig das Bild der Dreifaltigkeit sowie als abschließender Höhepunkt und größtes Bild im Gewölbe das Jüngste Gericht. Auf der Nordempore begleiten im Gewölbe die vier Evangelisten mit ihren Symbolwesen (von West nach Ost Matthäus, Lukas, Markus, Johannes) das von ihnen überlieferte Geschehen. In der Ornamentik des nordöstlichen Emporenbereichs verweisen Musikinstrumente und Bücher darauf, dass von dort aus die Gottesdienste musikalisch begleitet wurden. Heraldische Symbole für den Rang des Auftraggebers Georg Mehl von Strehlitz als kaiserlicher Rat und königlicher Vizekanzler sind die Wappen in den Gewölben der Fensternischen: auf der Empore mittig der Reichsadler, westlich der böhmische Löwe, östlich das ungarische Wappen, auf der Südseite östlich der schlesische und westlich der mährische Adler.
Nur die Wappen an der westlichen Emporenbrüstung (Trauttmannsdorf und Sternberg) stammen von einer Übermalung der Zeit um 1650.
Die originale Grotesken- und Arabeskenornamentik spiegelt modernste Strömungen der norditalienischen Renaissance, vermittelt durch Vorlagen in der Druckgrafik (Ornamentstichblätter, Buchgrafik), Malerei und gleichzeitigem Stuck. Eine wichtige Rolle bei der Vermittlung der italienischen Vorbilder spielte im mittleren 16. Jahrhundert die Augsburger Unternehmer- und Bankiersfamilie Fugger, deren Residenzen der zuvor in Italien ausgebildete deutsch-niederländische Maler Friedrich Sustris ausschmückte, bevor er 1573 in die Dienste Herzog Maximilian V. von Bayern trat. Unter seiner Leitung wurde dann Grottenhof und Antiquarium der Münchner Residenz errichtet und ausgestattet, wobei das Antiquarium ab 1583 eine Groteskenausmalung erhielt, deren Ornamentik mit der Grafensteiner Ausmalung nahe verwandt ist. In Böhmen und Mähren finden sich motivische und stilistische Parallelen an königlichen Bauprojekten wie dem Jagdschloss Stern/Hvězda in Prag oder in den Schlössern des Hochadels in Nelahozeves/Mühlhausen, Teltsch/Telč, Böhmisch Krummau/Český Krumlov, Bechin/Bechyně, Rosenberg/Rožmberk, Butschowitz/Bučovice u. a.
Für die figurativen Darstellungen in Grafenstein spielten italienische Vorlagen im Unterscheid zu deutschen und niederländischen eine untergeordnete Rolle. Die Passionsbilder folgen vor allem den Zyklen Albrecht Dürers, insbesondere der Großen Passion von 1511 und der Kleinen Holzschnittpassion von 1509/11, deren Bilder und Motive hier – wohl durch Kopien und Nachstiche vermittelt – vereinfacht und seitenverkehrt umgesetzt wurden. Darin geht die Ausmalung von Grafenstein derjenigen in der katholischen Kirche des südböhmischen Lustschlosses Kurzweil/Kratochvíle rund zwanzig Jahre voraus: Dort hatte der Braunschweiger Maler Georg Widman im Auftrag des Wilhelm von Rosenberg nach den gleichen Vorlagen Dürers und jüngeren niederländischen Stichen im Langhaus ebenfalls einen Passionszyklus geschaffen, der zusammen mit den als Stuckdekoration ausgeführten Passionswerkzeugen (Arma Christi) im Altarraum und umgebenden Engeln die Kirche gesamthaft als Vision des Jüngsten Gerichts erscheinen lassen. Dieses bildet demgegenüber in Grafenstein explizit den Höhepunkt des Bildprogramms und verdeutlicht somit auch die zentrale Aussage: Das Erlösungswerk Christi vollendet sich am jüngsten Tag – wer im evangelischen Sinn im Glauben stirbt, darf der Auferstehung gewiss sein. Im Unterschied zu den Passionsdarstellungen diente für diese Szene keine ältere Druckgrafik als Vorlage. Vielmehr wurden hier die durch italienische und niederländische Kupfersticher vermittelten neuesten ikonografischen Lösungen umgesetzt – das Jüngste Gericht Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle (1536–1541; älteste Reproduktionsstiche um 1560) lieferte für die Figur des Weltenrichters und für die Gesamtkomposition zweifellos eine wichtige Inspiration. Auffällig ist das Kreuz, das bei den Fürbittern hinter Johannes dem Täufer auf die Verknüpfung mit der Passion verweist. Von besonderer malerischer Feinheit zeugen die Landschaft und die apokalyptischen Reiter, wenn gleich durch nachträgliche Beschädigungen das Bild insgesamt gelitten hat und Übermalungen die Aussagekraft von Details beeinträchtigt.
Dass in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weder für die Wahl der Vorlagen noch bei der Entwicklung komplexer Programme die konfessionelle Frage zwingend entscheidend war, zeigt die inhaltliche Verwandtschaft der Ausstattungsprogramme von Grafenstein und Kurzweil ebenso wie ein Blick auf zwei etwas älteren Referenzbauten in Süddeutschland, die Schlosskapellen in Neuburg an der Donau (evangelisch; 1541–1543) und Landshut (katholisch; 1538–1543). In beiden kulminiert das jeweilige Bildprogramm in Darstellungen der Himmelfahrt Christi, die endzeitlich auf seine Wiederkehr am Jüngsten Tag bezogen wurde. Für die starke Betonung der Passion in Grafenstein kann aber auch noch ein weiterer Referenzbau als mögliches Vorbild in die Betrachtung einbezogen werden: die durch die Pracht ihrer Innenausstattung damals bekannte Dresdner Schlosskapelle (um 1551–1555), deren Bildprogramm ebenfalls von der Passion Christi ausging. In formaler Hinsicht dürfte aber die bereits genannte Neuburger Ausmalung den entscheidende Ausgangspunkt für das Grafensteiner Werk dargestellt haben: Die 1543 vollendete, für den Pfalzgrafen Ottheinrich von Pfalz-Neuburg errichtete Neuburger Kapelle war der erste für den evangelischen Gottesdienst neu entstandene Kirchenbau Deutschlands. Obwohl sich die dortige Architektur- und Gewölbeform von Grafenstein unterscheidet, ist das Dekorationssystem mit Bildmedaillons in den Kappen, umgeben von Grotesken und einem großen zentralen Hauptbild überraschend ähnlich – in Neuburg ist in der Mitte Christus Salvator in einer Lichtglorie über den Gläubigen schwebend dargestellt. Eine weitere Variante dieser Idee bietet das zentrale Deckenbild mit der Darstellung Gottvaters in der evangelischen Schlosskapelle im steiermärkischen Strechau, geschaffen um 1575–1579 im Auftrag von Hans Friedrich Hoffmann von Grünbühl, dessen Bruder 1586 Eigentümer Grafensteins wurde. Während in Neuburg die um das Mittelbild herum angeordneten Bilder als evangelische Predigt mit kleinteiligen alttestamentarischen Szenen konzipiert und in Strechau ein komplexes typologisches Programm mit Gegenüberstellung von alt- und neutestamentarischen Szenen entwickelt wurde, beschränkte sich Georg Mehl auf einen relativ einfach lesbaren Passionszyklus als symbolischer Weg zur Erlösung.
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Ausstattung
Angesichts des einheitlichen Konzepts der Ausmalung ist anzunehmen, dass auch die übrige bildliche Ausstattung ehemals darauf Bezug nahm. Heute fällt auf, dass im Deckenprogramm die für die Aussage zentrale Szene der Kreuzigung als Sinnbild des Opfers schlechthin und Ausgangspunkt des Erlösungswerks Christi fehlt. Daraus kann abgeleitet werden, dass der ursprüngliche Altar im Zentrum des Raumes diesem Thema gewidmet war, entweder in Form einer plastischen Darstellung wie in Neuburg und Dresden oder als Gemälde wie in der Schlosskirche Augustusburg (um 1570). Die Hervorhebung der Muttergottes und anderer Heiliger kam für ein evangelisches Bildprogramm nicht in Frage. Deshalb dürfte das gleichfalls um 1560/70 entstandene, heute verschollene Altarbild mit Darstellung der Madonna mit Kind und Johannesknaben, umgeben von Weinstöcken und Orangenbäumen – entstanden in einer von der Cranach-Schule beeinflussten Werkstatt –, erst nachträglich an diese Stelle gelangt sein. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es zur Originalausstattung der Gemächer Georg Mehls gehört hat; Marienbilder waren auch unter protestantischen Gläubigen im privaten Umfeld verbreitet, selbst bei Martin Luther.
Glücklicherweise haben sich erhebliche Teile der übrigen Originalausstattung erhalten, so die Kanzel mit 5/8-Korpus auf einer geschwungenen Konsole, geschmückt mit einer ornamentalen Schablonenmalerei in nachgotischer Art. Da die Wandmalerei die Kubaturen der vier an der West- und Nordwand aufgestellten hölzernen Kastengestühle berücksichtigt, gehören zweifellos auch letztere zur Erstausstattung. Ihre Rückwände und Brüstungen sind mit einer feinen schablonierten Arabeskenmalerei versehen. Im Gestühl saßen Gäste und hochrangigere Bewohner des Schlosses während des Gottesdienstes, während das einfache Gesinde in der Mitte auf einfachen Bänken Platz nahm.
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Geschichte und Baugeschichte
Seit wann auf Grafenstein eine Kapelle bestand, ist unklar. Wahrscheinlich verfügte die Burg von Anfang an mindestens über ein Oratorium. 1387 wird erstmals eine Kapelle St. Barbara vor dem Schloss genannt, ebenso 1415; 1393 lautet die Lokalisierung „sub castro“ (unterhalb der Burg). Diese Erwähnungen lassen annehmen, dass die Kapelle zumindest nicht unmittelbar innerhalb der Kernburg angeordnet war. In Ermangelung weiterer Nachweise und archäologischer Befunde sind jedoch vorläufig alle weiteren Aussagen dazu hypothetisch. Dies gilt auch für die Frage nach Herkunft und Funktion einer heute am Zugang der Turmwendeltreppe zur südlichen Ostempore der Kapelle im Fußboden vermauerten Steinplatte mit der Ritzzeichnung eines Kreuzes und dem Wappen der Herren von Dohna. Wahrscheinlich befand sich diese Platte einst in der Burgkapelle, ob es sich allerdings um einen Grabstein handelte (wie bisher vermutet wurde), bleibt unklar – die Burgkapelle dürfte höchstens ausnahmsweise als Begräbnisort gedient haben, besaßen doch die Herren von Dohna ihre Familiengrablege bei den Zittauer Franziskanern. Letztes Ausstattungsstück der mittelalterlichen Kapelle war wohl die bis 1945 erhaltene, seither verschollene und im Jahr 2002 als Kopie wieder aufgestellte Holzskulptur der hl. Barbara mit dem Turm, im Original ein Werk des mittleren 15. Jahrhunderts.
Kirchenrechtlich unterstand die Grafensteiner Kapelle der Pfarrei Grottau/Hrádek, deren Patronat die Burgherren von Grafenstein ausübten. Dem Burgkaplan stand ein eigenes „Pfaffenhäuslein“ mit einem Garten zur Verfügung. Zum Unterhalt der Kapelle und des Kaplans dienten Zinserträge aus Grundstücken bei Zittau, in Kleinschönau/Sieniawka und Luptin. Bis ins 19. Jahrhundert wurde jeweils am Weihnachtsabend beim Zittauer Stadtschreiber der Zins eingezogen, wofür dieser einen Hasen aus den Grafensteiner Wäldern erhielt.
Eine erste konkretere Beschreibung der Kapelle stammt vom 22. August 1549. Sie überliefert, dass damals die „Kirche“ bereits im Hochschloss lag, nahe des großen Saales im Ostflügel und neben den Gemächern der Burgherren Albrecht und Johann von Dohna. Die Kapelle verfügte über eine Orgel, mehrere Altäre und Bilder; zudem war sie mit mehreren Fenstern, einem Taufstein sowie einem Sakristeischrank ausgestattet. Auch wenn anhand jener Bestandesaufnahme eine gesicherte Lokalisierung noch nicht vorgenommen werden kann, so steht doch fest, dass es sich um einen größeren Kirchenraum handelte. Und es spricht nichts gegen die Vermutung, dass dieser sich bereits an der heutigen Stelle befunden hat, zumal nach den Bauuntersuchungen von Václav Girsa die beiden Längswände der Kapelle einer älteren Bauphase entstammen als der Gewölbeausbau.
Die heutige Gestalt des Raumes lässt sich sodann genau datieren: Nachdem Georg Mehl von Strehlitz Grafenstein erworben hatte, begann 1564 der umfassende und anspruchsvolle Ausbau zum Renaissanceschloss, der wahrscheinlich 1569 weitgehend abgeschlossen war. Jedenfalls wiederholt sich diese Jahreszahl im Kapellenraum und dürfte das Jahr der Vollendung bezeichnen. Da der Bauherr ebenso wie sein Grafensteiner Herrschaftsgebiet protestantisch war, handelte es sich um eine Kapelle für den evangelischen Kultus. Evangelisch blieb die Kapelle bis 1651, als die Familie von Tschirnhaus aufgrund ihrer Konfession Grafenstein veräußern musste und zunächst mit den Nostitz, dann mit den Trauttmannsdorf katholische Adelsfamilien auf Grafenstein einzogen. 1692 entstand das kleine Orgelpositiv, das die Signatur „HvZ“ trägt und möglicherweise von einem bisher nicht bekannten Zittauer Orgelbauer stammt. Umgeben von vergoldetem Akanthuslaub zeigt seine Bekrönung das Bild der hl. Barbara. Ein weiteres bemerkenswertes Ausstattungsstück der Barockzeit war ein seit 1945 verschollenes Votivbild des bayerischen Wallfahrtsortes Alt-Ötting.
Unter den Clam-Gallas bestätigte 1738 Papst Clemens XII. den Rang als Privatkapelle, was 1760 wiederholt wurde. Eingreifende bauliche Veränderungen sind nicht überliefert. Erst 1818/19 ist eine Erneuerung dokumentiert. Damals wurden die Wandmalereien erneuert sowie der Aufbau des Hochaltars mit einer klassizistischen Rahmung und einem Auszugsbild mit Kreuzigungsdarstellung von Joseph Bergler versehen. Beim Brand des Schlosses 1843 soll auch die Kapelle in Mitleidenschaft geraten sein, aber keine schweren Schäden erlitten haben. 1908 erfolgte eine damals bereits von der kaiserlichen Denkmalpflege-Kommission begleitete Renovation, wobei der akademische Maler und Galerieinspektor Paul Bergner aus Wien die Wandmalereien großflächig ausbesserte und übermalte. Das Altarbild mit Darstellung der Madonna mit Kind und Johannesknaben wurde zudem durch eine Kopie ersetzt und nach Wien gebracht. Mit der Vertreibung der letzten adligen Eigentümer 1945, der Konfiszierung und Verstaatlichung der Herrschaft und allen Besitzes verlor die Kapelle ihren kirchlichen Status. Sie wurde geplündert und als Abstelllager genutzt. Erst 1988/89 konnte sie von der Öffentlichkeit wieder entdeckt und seit 1992 auch wieder zugänglich gemacht werden. In Etappen erfolgte die sorgsame Wiederherstellung mit teilweiser Rekonstruktion der Ausstattung (Altarbilder und Barbarafigur, 2001/2003) und umfassender Restaurierung der historischen Ausstattung und der gesamten Ausmalung (2007–2009). Nun finden hier auch wieder regelmäßig Gottesdienste statt, insbesondere zum Barbarafest (4.12.) und zu Ostern.
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Würdigung
Mit seiner Schlosskapelle schuf sich Georg Mehl von Strehlitz ein Denkmal von hohem Rang, das von seinem Glauben, seinem Anspruch und seinem Geschmack zeugte. Es war damals in seiner Einheit von Architektur und Ausmalung in den böhmischen Ländern einzigartig. Im europäischen Zusammenhang handelt es sich sogar um eines der frühen Beispiele eines einheitlich konzipierten und ausgestatteten evangelischen Sakralraumes. Zweifellos spielten für seine Entstehung Herkunft und Horizont des Auftraggebers eine wichtige Rolle: Aus einer aufstrebenden Breslauer Patrizierfamilie stammend, hatte Georg Mehl von Strehlitz in Ingolstadt und Bologna studiert, verfügte über eine hohe Bildung, vielseitiges wissenschaftliches Interesse und eine bedeutende Bibliothek. Sein Vater Balthasar war im Auftrag der mächtigen Familie Fugger Jahrzehnte lang als Burghauptmann der Bibersburg/Červený Kamen (Slowakei) tätig gewesen, die während seiner Amtszeit nach Plänen Albrecht Dürers zu einer mächtigen Festung ausgebaut wurde. Mitglieder der aus dem oberitalienischen Lancio d’Intelvi stammenden Baumeisterfamilie Spaz oder Spazzio waren daran beteiligt – später arbeiteten sie am Renaissanceausbau des Schlosses Grafenstein und waren im nordböhmisch-oberlausitzischen Gebiet in Görlitz, Friedland und Reichenberg tätig; in den Quellen genannt werden vor allem Giovanni (Hans) und Marco (Markus) Spaz. Als Grafensteiner Bauherr verfügte Georg Mehl von Strehlitz damit über Fachleute mit großen Erfahrungen.
Mit der süddeutschen und oberitalienischen Kunst ebenso wie derjenigen am Hof Ferdinands I. und Matthias II. vertraut, orientierte sich der Bauherr selbst an den modernsten, von Jacopo Strada, dem Hofantiquar und kaiserlichen Berater nach Prag, Wien und München vermittelten Strömungen der oberitalienischen Spätrenaissance und des Manierismus. Ob Georg Mehl von Strehlitz die Burgkapelle von Neuburg an der Donau oder die Landshuter Stadtresidenz kannte, ist nicht erwiesen. Daran beteiligte Künstler waren jedoch auch in seinem näheren Umfeld tätig, insbesondere der zeitweise in den Diensten Ferdinands I. stehende Salzburger Maler Hans Bocksberger d. Ä. (um 1510–1561) und dessen Söhne. Einer davon, Heinrich Bocksberger, 1561 noch nicht volljährig, also vermutlich kurz nach 1540 geboren, kam wahrscheinlich von Wien über Prag nach Nordböhmen. Bis auf ein Stammbuchblatt sind bisher keine gesicherten Werke von ihm nachweisbar. Hingegen ist bezeugt, dass er spätestens 1573 in Zittau als verheirateter Maler ansässig war, da in jenem Jahr seine Tochter Adelheide getauft wurde. 1585 schuf er die als sehr fein gelobten Emporenbilder der Zittauer Hauptkirche St. Johannis, 1588 war er am Rathaus in Friedland tätig, 1589 in der Kirche Kleinschönau/Sieniawka und dann im Schloss in Muskau, wo er 1600 beim Sturz vom Gerüst tödlich verunglückte. Die Nähe der Grafensteiner Kapellenausmalung zum Werk Hans Bocksbergers d. Ä. in Neuburg und Landshut sprechen dafür, dass sein Sohn Heinrich dieses Werk geschaffen hat. Ebenfalls in Betracht kommt er sodann als Autor des Kleinen Zittauer Fastentuches von 1573 und als Maler der 1599 datierten, künstlerisch ausgezeichneten Emporenbilder in der Kirche von Mittelherwigsdorf, die dem Patronat des Zittauer Rates unterstand.
Dass die Grafensteiner Malereien in Zittau nicht unbeachtet blieben, zeigen die motivisch den dortigen Passionsszenen folgenden Emporenbilder der Spittelkirche St. Jakob, die 1617 der aus der Prager Altstadt stammende Maler Hans Sperber (1560–1631) geschaffen hatte. Da er aufgrund seiner Lebensdaten als Autor der Grafensteiner Ausmalung nicht infrage kommt, kann man in ihm möglicherweise einen Lehrling und Mitarbeiter des Grafensteiner Malers sehen. Bisher ebenfalls nur zu vermuten ist, dass letzterer auch den später mit Arbeiten in der Reichenberger Schlosskapelle betrauten Maler Ambrosius Fritsch beeinflusst hat. Ob tatsächlich Heinrich Bocksberger als Schöpfer der Grafensteiner Kapellenausmalung gelten kann, müssen weitere Untersuchungen weisen. Auf jeden Fall darf diese Raumschöpfung historisch und kunsthistorisch herausragende Bedeutung beanspruchen. Die Einheit von Architektur und Malerei machen die Grafensteiner Barbarakapelle zu einem Juwel der Renaissance in Mitteleuropa.
Eine ausführlichere Version dieses Aufsatzes mit allen Nachweisen wird an anderer Stelle publizier
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Schlosskapelle
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Auswahl der wichtigsten Literatur
Fučiková, Eliška: Nástěnné malby v zámecké kapli, in: Státní hrad Grabštejn, Ústí nad Labem 2002, S. 9 f.
Kaeppele, Susanne: Die Malerfamilie Bocksberger aus Salzburg. Malerei zwischen Reformation und italienischer Renaissance (Salzburger Studien. Forschungen zu Geschichte, Kunst und Kultur 5), Salzburg 2003.
Kühn, Karl Friedrich: Topographie der historischen und Kunstgeschichtlichen Denkmale im Bezirke Reichenberg, Brünn 1934.
Müller, Rudolf: Die Schloß-Capelle zu Grafenstein, in: Mittheilungen der K. K. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale, Neue Folge XIV, 1888 sowie 3. Folg, VIII, 1909.
Schlesingerová, Jana: Kaple svaté Barbory na Grabštejně. Bakalářská diplomová práce, Olomouc 2009 (unpubl.)
Seeliger, Ernst Alwin: Geschichte des Reichenberger Bezirkes bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, in: Heimatkunde des Kreises Reichenberg, Sudetenland III, Reichenberg 1935–1937.
Stierhof, Horst H.: das biblisch gemäl. Die Kapelle im Ottheinrichsbau des Schlosses Neuburg an der Donau, München 1993.
Wenzel, Kai/Winzeler, Marius: Kunst und Architektur in der Oberlausitz 1526–1635, in: Welt – Macht – Geist. Das Haus Habsburg und die Oberlausitz 1526–1635, hrsg. von Joachim Bahlcke und Volker Dudeck (Ausstellungskatalog: Zittau, Städtische Museen), Zittau/Görlitz 2002, S. 129–152.
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